“Justiz sollte schneller sein”

Jugendhilfe-Leiterin Nicola Kern. Foto: Privat.

Kürzlich war ein Video auf Instagram. Es ist ein brutales Video. Es zeigt, wie in der Straubinger Schildhauerstraße ein 15-jähriger polizeibekannter Intensivtäter einen etwa 14-Jährigen zusammenschlägt und stiefelt, auch mit Tritten gegen den Kopf, am hellichten Tag. Dieses Video ist in Straubinger Schülerkreisen bekannt. Inzwischen ist es aus dem Netz verschwunden.

Ein Polizeisprecher bestätigt die Echtheit des Videos. Es stammt vom 20. März. Der 15-jährige Täter gehört zu einer vierköpfigen Clique, die die Polizei seit geraumer Zeit beschäftigt. Er ist der älteste, die anderen sind zwischen 13 und 14 Jahre alt. Seit Wochen oder schon Monaten zieht diese Clique durch Straubing, bestätigt ein Polizeisprecher. Es geht um Körperverletzungen, gefährliche Körperverletzungen, Diebstähle.

Die ganze Clique ist „nichtdeutscher Nationalität“, sagt ein Polizeisprecher auf die entsprechende Frage. Anderen Quellen zufolge sollen die Täter schwer beschulbar sein, ihre Familien sollen aus Südosteuropa eingewandert sein und vom Staat sozial unterstützt werden.

In diesem Fall KI-generiert: Stiefeln. Bild: ChatGPT

Nicola Kern, Sie wirken als Leiterin der Jugendhilfe in Strafverfahren für die Stadt Straubing in Verfahren nach dem Jugendgerichtsgesetz mit. Ist Ihnen dieser Fall schon bekannt?

Nicola Kern: Ja, der Fall ist mir bekannt. Das Video selbst kenn ich nicht, aber ich kenne Berichte der Polizei dazu. Wir als Jugendhilfe in Strafverfahren schauen von der pädagogischen Seite auf solche Vorfälle, und wir sind ein freiwilliges Angebot.

Wie oft haben Sie mit Fällen zu tun, in der solch eine Brutalität sichtbar wird und einem Jugendlichen offenbar völlig egal ist, ob da ein bleibender Schaden entsteht?

Kern: Ich bin seit 2020 in der Jugendhilfe in Strafverfahren für die Stadt Straubing. Das ist jetzt das insgesamt dritte Delikt in diesen fünf Jahren, bei dem ich davon ausgehe, dass das mit dieser Brutalität einhergeht.

Vor gut einer Woche ist die neue Polizeiliche Kriminalstatistik (PKS) 2024 herausgekommen. Sie zeigt eine alarmierende Entwicklung: Die Gewaltkriminalität unter Kindern und Jugendlichen ist erneut gestiegen. Besonders drastisch: Bei den unter 14-Jährigen bundesweit ein Anstieg der Tatverdächtigen um 11,3 Prozent, Jugendlichen um 3,8 Prozent. Wie ist das in Straubing?

Kern: Die grundsätzliche Kriminalitätsrate von 2023 auf 2024 hat ein bisschen abgenommen. Die Kriminalitätsbereitschaft unter 14 Jahre geht deutlich nach unten. Bei Körperverletzungsdelikten haben wir aber einen Anstieg. Wir hatten 2023 in der Altersgruppe 14 bis 21 14 Delikte und im Jahr 2024 hatten wir 22 Delikte. Das ist schon enorm. Gefährliche Körperverletzung waren es zwölf Delikte und 2024 14 Delikte. Also, es steigt schon an.

Also auch in Straubing:  Kriminalitätsniveau grundsätzlich sinkend, aber Gewalt steigend. Das ist auch bundesweit so. Der Präsident des Bundeskriminalamts Holger Münch sagt dazu: “Mit Aufholeffekten nach der Corona-Pandemie sind diese Zahlen nicht mehr zu erklären.”

Kern: Mei, das ist eine Theorie. Meine Theorie ist schon die, dass Jugendliche in einem schwierigen Alter während der Pandemie zu wenig Unterstützung hatten, durch den Staat und auch durch die Erziehung, weil auch die Eltern mit dieser Situation deutlich überfordert waren. Die Auswirkungen kommen erst Jahre danach.

In einem ZDF-Bericht sagt der Kriminologe Dirk Baier, dass „neue Männlichkeitskonzepte“ eine Rolle spielen, dass sich im frühen Jugendalter zunehmend das „Recht des Stärkeren“ durchsetzt, und dass wir auch schon bei 13-Jährigen mittlerweile eine höhere Gewaltbereitschaft sehen.

Kern: Ja, das ist so, das würde ich bestätigen.

Aber Sie würden das hauptsächlich auf Corona zurückführen?

Kern: Ich würde Corona nicht ausschließen. Aber es ändert sich Einiges in der Gesellschaft im Moment, in der Erziehung, mit Werten und Normen.

Es wird dann immer gerne gesagt: Man muss die Zusammenarbeit verbessern zwischen Polizei, Jugendhilfe und Sozialarbeit, man muss mehr Geld in die Prävention geben. Aber kann das funktionieren, wenn die Wurzel in der Erziehung, also in der Familie, liegt?

Kern: Da würde ich sagen, man muss anfangen bei den Eltern: Elternwille stärken, Elterntrainings. In den Schulen passiert da auch sehr viel.

Aber diese Clique im Video: Da gibt es die Sprachbarriere bei den Eltern aus Osteuropa, die Cliquenmitglieder sind offenbar nur schwer beschulbar. Wie kommt man an Eltern ran, die womöglich sagen, „was wollen die überhaupt von uns?“, und die Jugendlichen sind schon so neben der Spur, dass sie den Schulunterricht nicht mehr voll mitmachen können?

Kern: Das ist schwierig, freilich.

Und wenn ein solcher 15-Jähriger vor dem Jugendrichter steht: Was wird da rauskommen?

Kern: Bei einem so heftigen Körperverletzungsdelikt würde ich nicht ausschließen, dass tatsächlich eine Jugendstrafe im Raum steht.

Das heißt?

Kern: Jugendstrafe bedeutet eine Vorstrafe. Das beginnt ab einem halben Jahr Freiheitsentzug, die in der Regel beim ersten Mal zur Bewährung ausgesetzt wird. Dazu gibt es dann Auflagen, in der Regel Sozialstunden, möglicherweise ein Anti-Aggressivitätstraining.

Diese Clique ist ja offenbar schon einige Zeit aufgefallen mit Körperverletzungen und auch gefährlichen Körperverletzungen. Sie dürfen aber noch frei durch Straubing gehen. Wie ist das zu erklären?

Kern: Ein Täter wird erst erwischt. Dann ermittelt erst einmal die Polizei. Dann gibt es einen Bericht an die Staatsanwaltschaft. Die schaut sich das dann an. Dann gibt es eine Anklage. Die geht dann ans Gericht weiter, und dann wird das irgendwann terminiert. In der Regel dauert es von der Tat bis zur Verhandlung vier bis sechs Monate.

Wenn Sie also sehen, die Gewaltkriminalität bei jungen Leuten ist steigend, wie zuversichtlich sind Sie, dass man mit unseren Möglichkeiten wieder zu einem Normalzustand kommt, was immer auch der Normalzustand ist?

Kern: Ja, das ist die Frage: Was ist der Normalzustand? Ich sag jetzt einmal, Normalzustand wäre, dass man abends auf die Straße gehen kann, ohne dass man Angst haben muss. Und ich würde mir manchmal schon wünschen, dass die Justiz schneller greift. Es ist ja oft so, dass Jugendliche sich wegen Nichtigkeiten prügeln. Und wenn solche Verfahren sich ein halbes Jahr, ein dreiviertel Jahr hinziehen, kann der Jugendliche nach sieben Monaten gar nicht mehr einen Zusammenhang zwischen Strafe und Tat herstellen.

Das Erste, was ich bei einem Anruf bei der Staatsanwaltschaft gehört habe, war: „Wir sind momentan komplett unterbesetzt“: Justiz überfordert, Lehrer überfordert, Kommunalpolitik überfordert. Wenn man aber überall zu wenig Leute hat und auch zu wenig Geld, kann man dann bei dem Thema noch positiv in die Zukunft schauen?

Kern: Das wäre jetzt einfach mein Appell an die Regierung: Dass man irgendwie von diesem ganzen Bürokratiewahnsinn wegkommt. Es werden Gesetze gemacht und man überlegt nicht, wie ist das umzusetzen. Und das bindet Personal und Geld, und das ist ein großes Problem.

Nicola Kern, Danke für das Gespräch.

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