Über Merz-Bashing

Sogar die KI zeichnet Merz eher unfreundlich, und Wüst so, wie viele Medien ihn sehen. Kein Wunder: KI orientiert sich an den meistveröffentlichten Pressefotos. Foto: ChatGPT

Irgendwann hab ich angefangen, mich zu wundern. Ich halte ja Professor Dr. Martin Balle grundsätzlich für einen sehr intelligenten Mann, der sehr gut schreiben kann. An seinem Schreibstil stört mich eigentlich nur, dass er viel zu viele Ausrufezeichen setzt, in seinem jüngsten Artikel vom Montag gleich neun. Mir ist das zu viel.  

Wenn es um Ausrufezeichen geht, bin ich ganz bei der Schreibtrainerin Annika Lamer: „Das Ausrufezeichen ist der aufdringliche Onkel, der sich bevorzugt selbst einlädt. Extrovertiert und schrill, will er um jeden Preis auffallen. Er redet notorisch mit zu lauter Stimme. So bekommt er zwar Aufmerksamkeit, geht seinem Umfeld aber auch schnell auf die Nerven.“

Ausrufezeichen schreien den Leser an. Man sollte den Leser nicht allzu oft anschreien. Aber abgesehen davon sind diese Texte klar und strukturiert. Man versteht, was der Text sagen will. Der jüngste Text zum Beispiel will sagen: „Ich mag den Merz nicht, aber den Hendrik Wüst schon.“ Und das wundert mich.

Starker Tobak

„Den Anforderungen nicht gewachsen“ heißt der Text über Merz. Balle stellt da eine rhetorische Frage: „Würde man einen Arzt, der aus erkennbarem Mangel an Qualifikation nicht am offenen Herzen eines Patienten operieren sollte, dennoch dort arbeiten lassen, damit der Ruf des Krankenhauses in der Öffentlichkeit nicht leidet?“ Das ist starker Tobak, vor allem, wenn der selbe Text Hendrik Wüst zum besseren Kandidaten erklärt.

Wüst ist der Mann, der vor einiger Zeit zu Angela Merkel geschrieben hat: „16 Jahre hatten viele von uns das Glück von einer starken Frau & einem großen Vorbild regiert zu werden“, und sie kürzlich als Wahlkampfhilfe eingeladen hat.

In diesen 16 Jahren Merkel ist Deutschland in Digitalisierung, Infrastruktur, Verteidigung, Energie-Umbau und auch sonst in fast jedem Politikfeld zurückgefallen, Verhältnis zu Frankreich historisch schlecht, Abhängigkeit von russischer Energie historisch groß.

Wär Wüst denn besser?

Das alles sieht Balle natürlich auch. Vor fünf Jahren hat er „die unendlichen Defizite dieser Kanzlerschaft“ sehr treffend beschrieben: „Ihr durchgängiges Mittelmaß, ein Regieren ohne eine Idee für das Land. Das ständige Lavieren, um ja die Macht zu erhalten. Faule Kompromisse, die nach allen Seiten dienen wollten, eine Politik ohne echte Ecken und Kanten.“

Wenn Deutschland ein Patient ist, der am offenen Herzen operiert werden muss, dann wegen der Art, wie Dr. Merkel Deutschland 16 Jahre lang behandelt hat. Aber den Mann, der diese 16 Jahre lange Behandlung als „Glück“ sieht, findet Martin Balle “klug, differenziert, kompetent in der Sache”, und auf den Mann, der mit Merkel gebrochen hat, haut er drauf.

Und Martin Balle führt noch ein Argument gegen Merz an: „Nirgendwo sonst in Europa ist der Vermögensunterschied zwischen Arm und Reich vergleichbar groß wie in Deutschland!“ Und er wirft Merz vor, dass der das nicht ändern will. Abgesehen davon, dass das Institut der deutschen Wirtschaft bei der Arm/Reich-Schere doch noch Schweden, Irland, Dänemark und Norwegen vor Deutschland sieht: Den Vorwurf kann man so ziemlich jedem abseits von Johannes Spielbauers Linke machen. Aber man macht ihn nicht jedem.

Logische Folge: Die AfD freut sich

Warum sollte denn Wüst am Patienten besser als Merz arbeiten? Wüst ist für Taurus-Lieferungen an die Ukraine, genau wie Merz, aber Merz handelt sich dafür Tadel von Balle ein: „Es gibt gute Gründe, das genau nicht zu tun!“ Wüst lobt noch im Januar 2025 Merkels EU-Pakt mit Erdogan, den Balle schon fünf Jahre zuvor einen „Teufelspakt“ nennt; aber Kritik an Wüst gibt es nicht. Der bleibt „ein feiner Kerl“ und „ein junger Familienvater, im Auftreten bescheiden“, weil er sich bei einem Auftritt vor Meinungsmachern gut präsentiert hat. Das wundert mich einfach.

Was mich aber gar nicht wundert, ist das neueste Umfragehoch für die AfD: 26 Prozent. Höchststand. Erstmals vor der Union. Das kommt halt raus, wenn große Teile der Medien das tun, was Balle auch tut, nämlich schon im Vorhinein zu erklären, wie schlecht die nächste Regierung unter Merz sein wird.

Der Punkt scheint mir deshalb eher der: Martin Balle und viele Medien mögen Merz ganz einfach nicht. Natürlich hat er Fehler gemacht. Aber vielleicht sollten wir trotzdem genau das tun, wovon Martin Balle abrät, und Merz eine Chance geben. Einfach deswegen, weil auch Merz aus Fehlern lernen kann und er aller Voraussicht nach trotzdem der nächste Kanzler sein wird. Und weil es gar keinen Sinn hat, ständig zu erklären, wie ungeeignet er ist. Merz-Bashing spielt ja nur der AfD in die Karten. Man sollte darauf verzichten, genau wie auf Ausrufezeichen.

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“Justiz sollte schneller sein”